1981 rief die UNO das „Internationale Jahr der Behinderten“ aus. In Westdeutschland lud die Bundesregierung zur feierlichen, hochoffiziellen Eröffnung. In der Dortmunder Westfalenhalle – angemessen repräsentativ und medientauglich – sollten wichtige Reden gehalten werden; auch der Bundespräsident, der 1981 Karl Carstens hieß, würde sprechen. Doch alles kam anders.
Keine wirklichen Verbesserungen
Demonstrierende Menschen mit Behinderung, auf Krücken oder im Rollstuhl, besetzten die Bühne. Sie ketteten die Rollstühle zusammen und verhinderten so die Auflösung des Protestes. Auf der Bühne kaperten sie das vorbereitete Mikrofon und entrollten ein Transparent, das den Schriftzug trug: „Keine Reden – keine Aussonderung – keine Menschenrechtsverletzungen“.
Der rollstuhlfahrende Aktivist Gusti Steiner verlas Teile einer eigenen Resolution des Protestzugs und kritisierte das gesamte Anliegen der offiziellen Veranstaltung. Keine der Reden, die zur Eröffnung des Jahres gehalten werden sollten, sei es wert, auch Gehör zu finden – weil „keine dieser Reden unsere Situation verändert“. Wohlfahrtsinstitutionen und die Politik würden die eigene erfolgreiche Arbeit zwar als steten Fortschritt glorifizieren. Aber die wahren Lebensumstände von Menschen mit Behinderung blieben unsichtbar, ihre Versuche der Selbstbestimmung und Selbstvertretung würden unterlaufen.
Entgegen der Rhetorik bleibe es beim Ausschluss von Menschen mit Behinderung aus der Gesellschaft, an der Steiner und viele weitere Protestteilnehmende – eben als Menschen mit Behinderung – jedoch genauso gleichberechtigt und selbstbestimmt Teilhabe einforderten. Mit der Besetzung der Westfalenhalle und der Festveranstaltung forderten Steiner und die Behindertenbewegten dieses Recht auf Teilhabe in der Demokratie radikal und konfrontativ gegenüber der Mehrheit ein.
Protest mit Wirkung
Das blieb nicht ohne Resonanz: Nicht nur war dem Protest vor laufenden Fernsehkameras mediale Aufmerksamkeit sicher, vor 2000 Zuschauer:innen folgte der Aktion eine Aussprache zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen. Auch Wohlfahrtsverbände, das Bundesland Nordrhein-Westfalen und auch mancher Politiker verstanden die Botschaft. Sie sprachen sich für Formate aus, in denen Menschen mit Behinderung nicht allein das Thema sein, sondern selbst ihre Stimme einbringen konnten.
Vor allem aber nahmen 1981 viele Behindertenbewegte wahr, dass gemeinsames, öffentlichkeitswirksames Handeln Erfolg haben und den Anstoß für Veränderungen geben könnte. Weitere Protestaktionen durchzogen das Jahr – darunter auch ein innerhalb der Bewegung vielfach kritisierter körperlicher Angriff auf Bundespräsident Carstens – und mündeten in einen eigenen Kongress, der die „Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat“ offenlegte und kritisierte.
Kontinuitäten des Ausschlusses
Das NS-Regime hatte Menschen mit Behinderung mit der Rechtfertigung, sie stellten „lebensunwertes Leben“ dar, vielfach ausgesondert, isoliert, konzentriert und systematisch ermordet. Auch nach 1945 blieben diese Menschen in Deutschland noch lange einem Blick ausgesetzt, der eben diese abwertende Haltung widerspiegelte. Eine vermeintliche „Stunde Null“ gab es auch hier nicht.
Diese Kontinuität zeigte sich auch darin, dass in der Nachkriegszeit wiederum Strukturen entstanden, die Menschen mit Behinderung aus der Gesellschaft fernhielten. Nur in Heimen oder innerhalb der eigenen Familie war ein Leben möglich, das jedoch somit weiterhin fremdbestimmt bleiben musste.
Zwar entstanden bereits in den 1950er Jahren Initiativen seitens der Eltern von Menschen mit Behinderung, die sich dafür einsetzten, Angehörige mit Behinderung in kleineren Einrichtungen unterzubringen, um sie besser zu versorgen und fördern zu können – aber um ihre gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung ging es nicht. Wesentlich dafür war ein Verständnis von Behinderung als Defekt, als „Krankheit“ und biologischen Abweichung von der Norm. Behinderung wurde zu einem unentrinnbaren Schicksal, das Selbstbestimmtheit überhaupt nicht vorsah.
Erste Erfolge durch Selbstorganisation
Als in den späten 1960er und beginnenden 1970er Jahren die Zeichen auf Kritik und Infragestellung, Aufbruch und Selbstbestimmung standen, ging jene „Fundamentalpolitisierung“ an jungen Menschen mit Behinderung nicht vorbei. Vielerorts schlossen sie sich zusammen: Sie gründeten Clubs zur Freizeitgestaltung und zum lokalpolitischen Engagement, um auf Barrieren in der öffentlichen Infrastruktur hinzuweisen.
Ernst Klee und Gusti Steiner begründeten 1973 den Frankfurter Volkshochschulkurs „Zur Bewältigung der Umwelt“, um mit spektakulären öffentlichen Aktionen auf die Lebenssituation und Emanzipationsforderungen von Menschen mit Behinderung aufmerksam zu machen. Eine dritte, radikalere, sich selbst provokativ als „Krüppelgruppen“ bezeichnende Bewegung, an der nicht-behinderte Menschen nicht teilnehmen durften, übte kompromisslos Kritik an der gesamten professionellen Behindertenarbeit, ob konservativ oder progressiv eingestellt.
Teil II dieses Beitrags erscheint am 23. Januar und ist dann hier zu finden.
Zum Autor
Jan Ruhkopf ist Historiker. Seit 2021 ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart tätig. Dort koordiniert er unter anderem die „100 Köpfe der Demokratie“. Er studierte Geschichte, Allgemeine Rhetorik und Öffentliches Recht in Tübingen und promovierte 2022 mit einer Studie zur Geschichte des Bundesvertriebenenministeriums.
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